Kurzgeschichten
Die Feder
Jede Nacht, wenn der Mond durchs Fenster scheint, hört sie seine Schritte. Leise und vorsichtig kommen sie immer näher. Ein gleichmäßiges Klack-klack, Klack-klack. Hin und wieder unterbrochen, wenn er lauschend vor einer verschlossenen Türe verharrt. Nur niemanden wecken, niemand darf ihn hören auf seinem nächtlichen Gang.
Sie weiß das. Darum bleibt sie still. Wartet reglos in ihrem Bett aus rotem Samt, bis seine Schritte ihre Türe erreichen. Ein letztes Mal Verharren, ein letztes Lauschen, dann das vertraute, helle Knarren. Leise, nur leise, niemand kennt diesen Raum, niemand darf ihn entdecken.
Sie bebt. Er atmet erleichtert auf, lehnt keuchend an der Tür. Sie wartet geduldig. Regt sich nicht auf ihrem roten Kissen. Er braucht Zeit, sie weiß das. Nach einer Ewigkeit kommt er auf sie zu. Seine Hand liebkost sie zärtlich. Streicht sanft über ihren weichen Körper. Sie regt sich nicht. Noch ist ihre Zeit nicht gekommen. Sie ist geduldig.
Nun hebt er sie hoch aus ihrem samtenen Bett. Der Tanz beginnt. Doch er ist ein schlechter Tänzer. Er stockt, kommt aus dem Takt und flucht darüber. Noch einmal von vorne. Wieder das gleiche Spiel. Er kann den Rhythmus nicht halten. Seine Bewegungen werden abgehackt. Er stolpert, flucht. Sie wartet.
Das Kerzenlicht flackert. Der Dichter wird müde. Seine Augen brennen. Langsam, ganz langsam gleitet er ab ins Reich der Träume. Nun beginnt ihre Stunde. Seine Hand wird zu ihrer Stütze, sie schmiegt sich zwischen seine Finger. Zu neuem Leben erwacht findet sie den Rhythmus, nach dem er zuvor vergeblich suchte. Jede Nacht das gleiche Spiel. Sie tanzt. Tanzt seinen Traum. Draußen leuchtet still der Mond.
Sie wiegt sich im Takt seines Herzens. Dreht Pirouetten zur Melodie seines Atems. So tanzt sie die ganze Nacht und wird erst müde, wenn der Morgen graut. Dann zieht sie sich wieder in sich zurück, wird wieder still.
Langsam wacht er wieder auf. Ganz sachte und vorsichtig legt er sie zurück in ihr weiches Bett aus rotem Samt. Liebkost sie ein letztes Mal. Dann verlässt er leise den Raum. In der Hand hält er ein Bündel Papier. Auf den weißen Blättern ihre getanzten Spuren seines Traumes.
Er wird wieder kommen. Wenn der Mond scheint, nächste Nacht.
Sonntag
Ein Sonntag-Morgen im Mai. Mir ist kalt, aber ich hänge in der Sonne. Es hat die ganze Nacht geregnet. Vielleicht wird es weiterregnen. Der Himmel ist noch nicht völlig leergewaschen, da schwimmt noch eine dicke, schwarze Wolke. Ihre Kinder verdecken die Sonne manchmal kurz, dann wird mir noch kälter.
Der Wind weht warm und mild. Ein richtiger Frühlingshauch. Er lässt ein paar letzte Kirschblüten in meine Richtung tanzen. Hübsch.
Vor mir lässt sich eine Amsel nieder. Sie singt. Eigentlich „er“, es sind ja die Männchen, die singen. Das Lied klingt schön, aber ich mag keine Amseln. Im Winter hatte ich ein Vogelhaus aufgestellt. Wollte Vögel beobachten. Das habe ich auch getan. Alle haben sie gefressen, geflattert und gepiept. Und geteilt. Nur die Amseln nicht. Die haben immer versucht, die anderen Vögel zu verjagen. Aggressive Viecher. Da kann mir der schwarze Vogel vor mir noch so schön vorsingen. Ich mag keine Amseln.
Ein paar Nachbarn gehen vorbei. Ich kenne sie kaum. Nur vom Sehen. Normalerweise grüßen sie recht höflich. Heute nicht. Heute sehen sie mich nur komisch an. Das tun sie sonst auch, wenn sie mir begegnen. Aber sonst grüßen sie dabei recht höflich. Heute nicht.
Ich fürchte, ich bin anders als die Menschen in meiner Umgebung. Vielleicht benehme ich mich auch einfach nur anders.
Ich bin Naturgärtner. Das mögen die Nachbarn nicht. Weil mein Garten Ungeziefer anzieht, sagen sie.
Ich bin Träumer mit einer hervorragenden Ausbildung. Das mag mein Chef nicht. Meine Vorschläge sind so unrealistisch, sagt er. Später präsentiert er sie als seine eigenen im Führungsmeeting und wird für seine Innovationen gelobt.
Ich bin spontan und sammle Erfahrungen. Das mag meine Familie nicht. Du musst doch einen sicheren Hafen finden, sagen sie. Damit meinen sie die Ehe. Dabei sind sie selbst die besten Vorbilder: alle seit Jahrzehnten unglücklich verheiratet. Aber verheiratet.
Ich bin kreativ. Das mögen meine Freunde nicht. Du hast immer so verrückte Ideen, sagen sie. Aber sie zeigen sich dankbar, wenn ich ihnen bei Anlässen unter die Arme greife. Professionell würde sie das gleiche Ergebnis teuer Geld kosten, sagen sie dann.
Manchmal frage ich mich, ob mich die Menschen und ihre Meinung überhaupt interessieren. Schließlich richte ich mich sowieso nicht danach. Ich lache und weine trotzdem meine eigenen Tränen. Ich tue, was ich tun muss. Ich folge meinen Prinzipien. Das macht mich glücklich, unabhängig und frei.
Ich hatte ein schönes Leben. Und hier, in der Sonne, auf meinem Balkon wird mir auch endlich warm. Die Wolken lösen sich doch noch auf. Ich habe einen schönen Tod.
Ich mag keine Amseln. Flieg weg!